Deutschland ist so unfassbar schön in diesem Spätmärz. Der Himmel eisblau, die Städte ruhig, frische Luft erfreut die Lungen. Wo noch Begegnungen möglich sind, zeigen sich die meisten Menschen freundlich. An der Supermarktkasse blicken sie sich wissend in die Augen. Der Mindestabstand von 1 Meter 50 sorgt für neue Umgangsformen. Nähe durch Respekt, ein Band der Empathie scheint das Land zu umschlingen.
Der Schrecken tarnt sich gern als Idylle.
Noch im Halbschlaf greife ich morgens zum Telefon, ich suche die Nachrichten der Nacht. New York identifiziert 21.000 Kranke bei 78.000 Getesteten. Mittlerweile wieder leichter Anstieg der Infizierten in China. In Indien demonstrieren Zehntausende, Körper an Körper, unter höchster Ansteckungsgefahr, für die Corona-Massnahmen der Regierung Modi. Die Afro-Jazz-Legende Manu Dibango, 86, Michael Jackson und Rihanna haben bei ihm geklaut, ist an den Folgen des Virus gestorben. In Marokko müssen sämtliche Medien ihre gedruckten Ausgaben einstellen. Erste bestätigte Fälle in Syrien und Myanmar. Kalifornien schliesst seine Strände. Sechs Millionen von Deutschland bestellte FFP2-Schutzmasken sind am Flughafen von Nairobi verschwunden. Die Meldung, die mich am stärksten berührt: In der Lombardei sind zehn Priester gestorben, die sich mit dem Virus infizierten, als sie Todkranken die letzte Ölung, den letzten seelsorgerischen Trost, spendeten.
Während ich scrolle, höre ich die Großstadt-Spatzen zwitschern als wäre ich auf der Alm und nicht in Berlin. Und das Pflaumenbäumchen auf der Terrasse blüht auch an diesem Mittwoch, an dem sich die Experten streiten, ob die Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 153 Milliarden Euro reichen wird, die wirtschaftlichen Folgen abzumildern und ob die Depression, die uns droht, eher viele Jahre oder nur wenige Monate dauern könnte.
Pandemie-Lifestyle, Ende März in deutschen Wohlstandsbezirken vom Gärtnerplatz-Viertel in München bis Prenzlauer Berg in Berlin: Vor dem mit Antioxidanten gepimpten Poridge-Frühstück werden die Yogamatten ausgerollt. Stille Tage im Klischee. Jeder aufgeklappte Laptop ist ein Office. Alle Urlaubspläne sind geschreddert. Kein „Save the Date“ schreit um Aufmerksamkeit. Wir lesen, wir optimieren unsere Sprachkenntnisse, wir mailen, wir skypen um die Wette. Telefonat mit meiner Mutter, 89 Jahre alt, im April wollten wir ihren Neunziger groß feiern. Das wird nicht sein dürfen, sie soll keine Menschenseele sehen. Essen wird geliefert und an der Haustür abgestellt. Vor ein paar Wochen wurde sie mit Lungenfibrose aus dem Landeskrankenhaus Salzburg entlassen. Nun ist sie zuhause isoliert – Viruszielgruppe erster Kategorie, aber guter Dinge. Sie genießt den Blick auf den Gaisberg und mailt mir gelegentlich Fotos von Frühlingsblumen.
Eine Freundin aus Mallorca berichtet, das sie nun zum ersten Mal seit zehn Tagen auf der Straße war. Die Stimmung in Palma ist schon nicht mehr so entspannt wie in Berlin. Die leeren Strassen riechen nach Resignation und Ohnmacht. Danach kämen ihrer Meinung nach Mord und Totschlag. Sie schreibt: „Ich komme mir vor wie in einem Computerspiel. Irgendwo sitzen ein paar Aliens beim galaktischen Bierchen zusammen und spielen ´Menschheit`“.
Trotz aller Beschränkungen und Befürchtungen : N-o-c-h erleben die allermeisten Deutschen Corona de Luxe; siehe Newsfeed. Aber wie würde ich als Arzt, Krankenpfleger oder Polizist diesen Text schreiben? Und wie würde ich ihn in einem Monat schreiben? Kurzer Talk mit Sicherheitsabstand: Hassan, Sohn des türkischen Spätkauf-Entrepreneurs in meiner Strasse, hat vor einem Jahr einen Hamburger-Laden mit ambitionierteren Burger-Kreationen, wie dem Chicken-Gorgonzola-Chutney-Burger für 8 Euro 90, eröffnet. Wie alle Restaurantbetriebe kann er nur mehr Ausser-Haus-Gerichte verkaufen. Seine drei Mitarbeiter hat er in den Urlaub geschickt. Alleine könne er den Laden noch ein paar Wochen halten. Wenn es länger dauert? „In zwei Monaten“, meint Hassan, der vor seiner gastronomischen Karriere ein profunder Kenner diverser Berliner Dunkelheiten war, „herrscht Anarchie. Dann ist es nachts nicht mehr sicher. Banden werden plündern. Ich habe schon jetzt kein Bargeld mehr zuhause. Stattdessen 20 Kilo Reis, 20 Kilo Nudeln, Kartoffeln, Zwiebeln.“
Der Virus rast, die Welt steht still, der Mensch verharrt in Duldungsstarre. Für manche ist das Leben nun ein endloser Sonntag. Bei anderen zieht die Apokalypse ein. Und dazwischen alle Schattierungen von Angst. Wie lange soll das gehen? Wann wird es wieder wie früher? Smarter als Donald Trump, der ankündigte, die USA am 12.April wieder in den Normalbetrieb zu führen, antwortete neulich Sebastian Kurz. Die Zeit nach Ostern, so formulierte er zögernd aber deutlich, werde dem aktuellen Zustand viel ähnlicher sein, als dem vor der Krise. Wie also nutzen wir die Zeit? Wie könnte die große Pause zur Chance werden und aus der Quarantäne neue Qualität erwachsen?
Die Eremiten der frühen Kirchengeschichte zogen sich in die Einsamkeit zurück, um Erkenntnis zu gewinnen. Wir modernen, vernetzten, hochkommunikativen Zwangs-Eremiten der Coronazeit könnten, ja: müssten nun Erkenntnisse für das Leben nach dem Virus gewinnen. Die Frage ist nämlich nicht: wann wird es wieder wie früher? Die Frage ist: wie soll es mit uns weitergehen, wenn das Ansteckungsrisiko soweit gesunken ist, dass wir uns wieder risikolos begegnen können. Also: In welcher Gesellschaft wollen wir nach Corona leben? Wie gelingt es uns etwa, den sachlichen, nahezu angenehmen Ton, der in den letzten Wochen in die politische Diskussion eingezogen ist und der sogar aus Talkshow-Schlachten ansatzweise vernünftige Debatten werden hat lassen, ja selbst einen Kevin Kühner dazu brachte Markus Söder bei Lanz nicht anzublaffen sondern ihm höflich und argumentativ zu begegnen, wie also retten wir diesen Ton und derartige Vernunft in die Nach-Corona-Zeit?
Oder: Wie profitieren wir von der Erfahrung mit schlanken Arbeitsprozessen? Wer hat denn noch Lust auf ermüdende Konferenzen mit Kompetenzgockelei, Showphrasen und bröselnden Keksen, nachdem wir erfahren haben, wie effizient Slack-Calls von der Wohnzimmercouch sein können? Und wer will noch ür einen Businesstermin in München, Frankfurt, Berlin brutto sieben Stunden Reisezeit inkl. Check-in-Drängelei, CO2-Schleuderei und Taxi-Ärger vergeuden? Sollten Unternehmen nicht eher für komfortabler Homeworkspaces etwa in Form von Mietzuschüssen bezahlen, als für repräsentative Immobilien?
Welchen Raum wird die Politik – auch jenseits von Gesundheitsfragen – unabhängigen Experten geben? Finden wir einen Berater-Mechanismus, der Wissenschaftlern, Philosophen und klugen Köpfen vor richtungweisenden Entscheidungen ebenso Gehör schenkt wie jetzt den Professoren Drohten und Kekule? Vor allem aber: wie gelingt uns ein Status-Upgrade für die Dienstleister ohne die der Laden nicht läuft? Wie wird sich unsere Gesellschaft bei all den Pflegern,Polizisten, Supermarktkassierern etc. bedanken. Die systemrelevante Elite mit den Minieinkommen verdient mehr als sie verdient. Eine umfassende Debatte über Löhne und Leistung in Deutschland steht an.
Wenn die Corona-Chroniken geschrieben sein werden, wenn die Toten gezählt, die Fehler analysiert, die Pleiten bilanziert und die Arbeitslosen registriert sind, dann werden wir uns auch fragen müssen: Haben wir die Zeit genutzt?
Deutschland ist so unfassbar schön in diesem Spätmärz. Im nächsten Frühling, da bin ich mir fast sicher, kann es noch viel schöner sein.