Die maskierte Gesellschaft

Osterspaziergang 2020 mit Nasen-Mund-Schutzmaske, Volksmaske nennt man sie mittlerweile.

Einatmen ist ok, aber Ausatmen fühlt sich an, wie Dampfsauna im Gesicht. Ein warmer feuchter Schwall legt sich auf Kinn, Wangen und Nasenflügel. Die Expirationsluft aus 17 Prozent Sauerstoff, vier Prozent Kohlendioxid und 78 Prozent Stickstoff wird, sobald sie den Mund verlässt, von der eng anliegenden Maske gleich wieder in die Nase gezwungen und nur unwesentlich aufgefrischt, wieder eingeatmet. Das verursacht Momente der Beklemmung und Irritation.Die Brillengläser beschlagen. Kommunikation fällt schwer. Sprechen will man sowieso nicht. Aber auch der Blick senkt sich. Man kann sich nun vorstellen, wie beschwerlich das Durchschreiten des öffentlichen Raums für vollverschleierte Frauen sein muss. Die Maske macht das Ich klein.

Der Berichterstatter sieht die Tulpen, die Krokusse und Märzenbecher im Park und denkt einen kitschigen Satz. Eine Welt ohne Gesichter wäre wie eine Welt ohne Blumen.

Seit das Robert-Koch-Institut auch der einfachen Maske eine virenminimierende Sinnhaftigkeit zugesteht, ihr Tragen also ausdrücklich empfiehlt und so die Kanzlerin
(„Masken sind Virenschleudern“) korrigiert, ist die vorsorgliche Vermummung in Deutschland moralischer Imperativ. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa erhob, das 57% der Deutschen eine Verpflichtung zum Maskentragen in der Öffentlichkeit befürworten.

Die Maske ist das Outfit der Stunde für den Horrorfilm in dem wir alle mitspielen. Und der Stoff, in dem der Hauptkonflikt dieser Tage eingewebt ist: Der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und gesamtgesellschaftlichem Interesse. Noch ist schleierhaft, was massenhafte Maskierung mit uns machen wird. Psychologisch, kulturell, politisch.

Bereits seit Montag dieser Woche kontrollieren maskierte Polizisten das Maskentragen von Supermarktkunden in Österreich. (Den Bankräuber, der als Arzt verkleidet neue Standards in der Kriminalität setzte und die Postsparkasse Wien-Donaustadt um einen unbekannten Geldbetrag erleichterte, konnten sie vorerst allerdings nicht fassen.)

„Ich bin mir vollkommen bewusst, dass Masken für unsere Kultur etwas Fremdes sind“, sagt Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, der sich anders als Angela Merkel zum Motor der Maskenpflicht macht. Kurz ist mit weißem Nasen-Mund-Schutz zur Parlamentsdebatte erschienen. Das unheimliche Virus macht ihn vom Vermummungsverbieter zum Vermummungsgebieter. Noch vor drei Jahren ließ er ein, gegen den radikalen Islam gerichtetes „Anti-Gesichtsverhüllungs-Gesetz beschließen. Nun erklärt er den Parlamentariern „angesichts von Leid und Tod“ sei Maskentragen Bürgerpflicht.

Seit der Mensch weiß, dass er kein Tier ist, trägt er Masken. Um Angst zu verbergen. Um zu erschrecken. Um sich stärker zu fühlen, als er ist. Um wild miteinander zu tanzen. Um anonymen Sex zu haben. Um Teil einer Gemeinschaft zu sein. Und meistens: um dem Tod zu trotzen.

Das Wort stammt aus dem Arabischen: Mascara; der Narr, der Clown, der Possenreisser. Oft genug sind die Umstände des Maskentragens aber eher unlustig. Die Memoiren der Maske erzählen von Masse und Macht. Das gilt für die venezianischen Pestmaske, ebenso wie für die schwarzen Masken der Henker, die wir zuletzt im Jahr 2006 bei der Hinrichtung
des irakischen Diktators Saddam Hussein via CNN weltweit vorgeführt bekamen.

Es gilt für die Anonymus-Masken der Occupy-Wallstreet-Bewegung wie für Masken der Studenten in Hongkong, die zu Zehntausenden der Gesichtserkennungstechnologie der chinesischen Repressions-Kräfte trotzten (letzteres geschah – unfassbar – erst vor einem halben Jahr). Und es gilt im Salzburger Land für die Schiachperchten, jene mit grotesken Zottelmasken verkleideten jungen Männer, die in den Rauhnächten die Mädchen
durch die Dörfer jagen, genau so wie in Mexiko für die proletarischen Anhänger des Catrina-Kults, die am Dia de los Muertes mit Todenschädel- und Skelettkostümen Randale machen.

Eine der ältesten Darstellungen der Menschheit, eine Höhlenzeichnung aus Trois Freires in Südfrankreich, zeigt einen kraftstrotzenden, tänzelnden Mann mit Hirschmaske. Die Zeichnung ist zwischen 40.000 und 10.000 Jahre alt – und sieht dabei fast so aus, wie die als Mischwesen verkleideten, tanzenden und singenden Prominenten, die in der SAT1-Show „The masked Singer“ auftreten Auch von den Arlecino-Masken der Comédia del Arte im 17.Jahrhundert zur Panda-Maske des deutschen DJs Cro ist es kein weiter Weg. Die Sehnsucht nach Verwandlung ist zeitlos.

Aber die kreativsten Maskenbildner sind Krankheit und Tod.

Venedig, das Wunder aus Moder, Gier und purster Pracht, ist der Herkunftsort der Pestmaske mit ihrem riesigen Schnabel, die in Zeiten der Pandemie einen speziellen Schauer auslöst.Es war im Jahr 1347, der Dogenpalast und der Markusdom werden gerade umgebaut und nähern sich ihrer heutigen Gestalt , die Buchdruckerkunst blüht und die Handelshäuser prosperieren, als eine Galeere aus der Hafenstadt Kaffa in der südlichen Krim die Erreger der schwarzen Pest in die Lagune bringt. Erst sind es die Obdachlosen und Armen, deren Haut von dunklen Flecken übersät werden und deren Lymphknoten zu eitrigen Geschwüren anschwellen, bald jedoch wütet die Seuche auch in den Palästen am
Canale Grande. Fast alle Schwangeren sterben, die engen Gassen sind mit Leichen überseht. 61 Jahre lang wird die Pest in immer neuen Wellen die Stadt quälen, ihre
130.000 Bewohner verzweifeln, nach Sündenböcken und nach Heilstrategien suchen lassen. Die Ärzte sind so ratlos wie die Sterbenden. Viren und Bakterien sind als Krankheitsverursacher unbekannt, man vermutet krank machende Dämpfe als Ursache des Schreckens. Folgerichtig glaubt man, sich mit stark duftenden Kräutern schützen zu können. Die Pestärzte behandeln in entsprechender Schutzkleidung: ein bodenlanger Ledermantel, Lederkappe und eben die Pestmaske mit dem riesigen Schnabel, der die Siechenden auf Abstand halten soll und in dem mit Essig getränkte Schwämme und wohlriechende Kräuter gestopft sind. Da die Ärzte nicht heilen können, sondern sich meistens anstecken und die Seuche weiter verbreiten, wird der maskierte „Dr.Schnabel“ für Jahrhunderte die Symbolfigur der Angst.

Venedig bleibt, auch nach Abklingen der Pest, die Stadt der Masken. Da man sich im Labyrinth der engen Gassen nicht aus dem Weg gehen und unerkannt passieren kann, bietet sich die Maske als diskreter Schutz vor Öffentlichkeit an. So entsteht die typisch venezianische Adelsmaske („La Bauta“), aus weissem oder schwarzen Leder, mit Broderie oder Goldstuckatur, die nur Augen und Kinn freilässt. Ihr Träger konnte anonym durch die Stadt wandeln und dennoch durch die aufwendige Gestaltung der Maske seinen privilegierten gesellschaftlichen Status dokumentieren. (Als „Bauta 2020“ wäre die Kombination Corona-Maske plus Designer-Sonnenbrille zu empfehlen.)

Der Doppelcharakter der Maske erlaubt es, das Antlitz zu verhüllen und gleichzeitig sein wahres Gesicht zu zeigen. Leider ist es manchmal ein böses Gesicht. In den Siebziger Jahren erschüttert eine bizarre Mordserie die USA. John Wayne Gacy, ein gesellschaftlich arrivierter Bau- Unternehmer, der bis in die Spitze der demokratischen Partei vernetzt war und als „Pogo, der Clown“ bei Wohltätigkeitsveranstaltungen auftrat, hatte sich im Clownskostüm an Kinder und Jugendliche herangemacht, um sie später bestialisch zu
morden. Dreissig Opfer gesteht er bei seinem Prozess im Jahr 1980 . Bis Gacy vierzehn Jahre nach dem Todesurteil mit der Giftspritze hingerichtet wird, kann sich der Serienmörder als Star des Bösen inszenieren. In der Gefängniszelle malt er hunderte Clownportraits, die auf dem internationalen Reliquienmarkt der Psychopathen für bis zu 20.000 Dollar pro Stück gehandelt werden.

Steven King ließ sich von Gacy zu seinem Weltbestseller „Es“ inspirieren. Trittbrettkiller auf der ganzen Welt verübten ihre Taten mit Maske. Jahrzehnte lang schreckten Gruselclowns als Botschafter des Bösen Freizeitparks, Spielplätze und Einkaufszentren. Noch 2016 kam es in Deutschland zu eine Serie von Attacken und so sah sich der Karstadtkonzern gezwungen, Clown-Masken aus dem Sortiment zu nehmen. Ein spätes popkulturelles Echo
der von „Pogo“ stimulierten Horrorclown-Bewegung war dann 2019 der Batman-Spin-Off „Joker“ mit Joaquin Phönix als missverstandenem jungen Mann, der als eine Mischung aus Killerclown und Robin Hood zur Identifikationsfigur der Deklassierten von Gotham City wird.

Der Kulturbruch, von dem Sebastian Kurz spricht, dürfte darin bestehen, dass künftig nicht mehr der Maskierte der Außenseiter, der Künstler, der Horrorclown oder Demonstrant ist, sondern im Gegenteil, derjenige, der die Maske verweigert, sich und die anderen nicht schützt, als asozial gelten wird. Die gesellschaftlichen Konsequenzen scheinen offen.
Anonymität im öffentlichen Raum kann gegenseitige Rücksichtnahme und Höflichkeit ebenso befördern wie das Gegenteil, Anarchie und Verbrechen.

Sind wir bereit für die ordnungsverliebte Duldsamkeit der Japaner, für die die Maske, längst zur zweiten Haut geworden ist ( deren Regierung allerdings , dies nur nebenbei, die Maskenversorgung aktuell allerdings auch nur so unrund hinkriegt wie die deutsche )? Die Autorin und Kulturproduzentin Katja Eichinger, deren Buch „Mode und andere Neurosen“ gerade im Blumenbar-Verlag erschienen ist, sieht im Gesicht ein seit jeher umkämpftes politisches Terrain. „Bei Vermummungsverbot, Burka oder Faical Recognition geht es neben dem Recht auf Individualität und Privatsphäre vor allem um das Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum. Das Gesicht ist der ausdrucksstärkste Teil unseres Körpers. Die Frage lautet: wieviel Anrecht hat die Gemeinschaft auf diesen Aspekt des Einzelnen?“.

Die hochgezogene Oberlippe, die gerümpfte Nase, gespannte Lippen, zusammengepresste Lippen, der angewiderte, der staunende, der Küssen wollende Mund, das offene Lachen, das spöttische Lachen, das verhöhnende Lachen. Unsere mimische Muskulatur kann tausende Grimassen ziehen und ebenso viel Gefühle ausdrücken. Unter der Maske kriegen die Emotionen Ausgangssperre. Den kitschigen Satz vom Anfang dieses Textes muss man neu schreiben: Eine Welt ohne Gesichter ist eine Welt ohne Menschen.

„Shut down“ darf deshalb auf keinen Fall „Shut up“ bedeuten. Die Masken, die in der aktuellen Notlage wahrscheinlich sehr nützlich sind, dürfen kein Knebel werden. Es gilt, gerade in Zeiten der Bedrohung, nicht zu verstummen. Freiheit braucht Sauerstoff.

Und wenn wir nicht gestorben sind, dann werfen wir die Masken wieder weg.

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